Und das kam so:
2004 war ich mal wieder in New York, um meiner ewigen Leidenschaft, der Reise- und Street-Fotografie nachzugehen. Und wie jeden New-York Touristen zog es mich auch das eine oder andere Mal an den Times Square. Nirgends kommt Manhattan dem eigenen Klischee so nach wie am Times Square. Leuchtreklame, Taxis, Menschen, Hupen, Hochhäuser, Straßenkünstler und Polizisten soweit das Auge reicht. Genau der Ort, an dem man sich als Streef-Fotograf gerne treiben lässt und abwartet, was einem so ins Auge fällt.
So war es auch am frühen Abend des 30.06.2004. Besonders angetan hatte es mir ein Polizist, der an eine Mülltonne gelehnt mit einem absoluten Klischeeamerikaner ein Schwätzchen hielt. Ein übergewichtiger, älterer Mann mit Fleck-Tarn-Basecap im Gesprüch mit einem Cop in Manhattan - Fotografenherz, was willst du mehr!?! Ich bin eine bestimmte Weile um die beiden herum geschlichen und habe sie aus verschiedenen Richtungen fotografiert.
Ich war aber nicht der einzige Street-Fotograf, der auf der Suche nach Motiven am Times Square umherschlich. Das war mir damals aber natürlich nicht bewusst. Extrem guten Kenner der Street-Photographer-Szene in New York erkennen schon am folgenden Bild, um wen es in diesem Blogpost eigentlich gehen soll. Na? Kleine Billingham-Tasche an sehr kurzem Schultergurt und Fotoweste - wer weiß jetzt schon, um wen es sich handelt?
Na, dämmerts? Ich war natürlich völlig ahnungslos und das sollte sich auch fast 13 Jahre nicht ändern. Mein Amerikaner war inzwischen weitergegangen. Der Polizist stand noch immer an der Mülltonne - in die Lektüre eines Flyers vertieft. Im Hintergrund führen die Taxis, vor ihm eilten Passanten vorbei. Ein schönes Motiv für eine etwas längere Verschlusszeit. 1/20 Sekunde vorgewählt, Blende 8 und 70mm Brennweite. So habe ich zahlreiche Male auf den Auslöser gedrückt, immer in der Hoffnung, dass der bewegte Vorder- und Hintergrund einen schönen Kontrast zu meinem ruhenden Pol(izisten) bilden. Dabei ist mir auch ein Fotograf durchs Bild gelaufen. Seine Leica M6 ist mir bei der Durchsicht der Bilder natürlich sofort ins Auge gesprungen. Und spätestens wenn man jetzt noch das Blitzkabel an der M6 ins Kalkül zieht, weiß jeder Kenner der amerikanischen Straßenfotografenszene sofort, wen ich da erwischt habe. Richtig: Leica mit entfesseltem Blitz, Billingham-Tasche, Fotoweste - das kann nur Bruce Gilden sein. Magnum Mitglied und einer der bekanntesten, dreistesten und erfolgreichsten Street-Fotografen.
Wer (wie ich zu diesem Zeitpunkt) Bruce Gilden nicht kennt, dem möchte ich einmal seine Webseite ans Herz legen. In seinem Wikipadia-Eintrag heißt es " Von anderen Straßenfotografen grenzt sich Gilden besonders durch seinen konsequenten Einsatz von Blitzlicht und der geringen Distanz zu seinem Motiv ab." Wer Gilden einmal in Aktion gesehen hat, weiß, was gemeint ist:
[embedyt] https://www.youtube.com/watch?v=kkIWW6vwrvM[/embedyt]
Nicht ohne Grund stellt Profifoto Kolumnist Hendrik Neubauer die Frage „Warum haut ihm keiner auf die Fresse?“ Wobei ich mir nicht sicher bin, dass die Grundannahme stimmt. 😉 Regelmäßigen Lesern der Profifoto wird vielleicht die Ausgabe 10/2015 in Erinnerung geblieben sein. Hier zierte eines von Gildens neueren Portraits die Titelseite. Im Heft ging es um Gildens aktuelleren Arbeiten - die Portraits aus seinem Buch "Faces". Meine Kollegen hat das Portrait auf dem Titel der Profifoto so abgestoßen, dass sie es auf dem Zeitschriftenständer auf unserem Flur hinter einem anderen Magazin versteckt haben.
Jedenfalls ist Bruce Gilden mir 2004 jedenfalls durch insgesamt drei Bilder gelaufen. Und es sollte wirklich noch fast 13 Jahre dauern, bis mir klar war, dass ich den Großmeister des Street-Abschusses, quasi als Beifang, selbst abgeschossen hatte. Welch eine Ironie!
2004 kannte ich weder Gildens Arbeiten noch Gilden selbst. Das hat sich inzwischen geändert. Gerade die neueren Arbeiten von Bruce Gilden sind mir schon seit einer ganzen Weile aufgefallen. Allerdings hatte ich mir keine Gedanken, wie Bruce Gilden wohl aussehen mag. Die Erkenntnis, dass mir da Bruce Gilden durchs Bild gelaufen ist, verdanke ich Markus Metschl. Der hat Gilden auf einem Foto in meinem Portfolio "The Human Factor" erkannt und mich bei Facebook darauf angesprochen. So habe ich erst im April 2017 erfahren, dass ich bei der Street-Fotografie in Manhattan New Yorks Street-Fotografen #1 fotografiert habe. Sachen gibt’s. 😀
Bernd Schaller
Hallo Christian
Ich kenne Bruce Gilden schon ewig, der hat mich jahrelang ALLES BLITZEN Lassen –
ob geignet oder nicht ,Schon beim Foto Studium in Bielefeld fand ich den faszinierend ,
das war 1996.
Habe dein Bild auch schon einmal gesehen,aber nur Polizisten ohne Gilden , oder er ist mir nicht aufgefallen.
Super Geschichte !
Gruß
Bernd
Christian Ohlig
Hey Bernd,
ja, du kennst bestimmt das Bild ohne Bruce. 🙂
LG Chris
DonPaolo
Eine schöne Geschichte und ein toller Fund im Archiv. Es ist auch ohne Gilden ein starkes Foto!
Danke fürs Teilen.
Gruß
Paul